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Grusswort von Regierungsrat Mario Fehr

Sehr geehrte Damen und Herren der Universität Zürich
Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Religionsgemeinschaften und Kirchen
Sehr geehrte Gäste aus Bildung und Politik

Regierungsrat Mario Fehr bei seinem Grusswort in der Aula der UZH. (Bild: Caroline Krajcir)

Es ist mir Freude und Ehre, heute einige Worte an Sie alle, geschätzte Damen und Herren, richten zu dürfen.

Heute ist ein Tag zum Feiern. Wir feiern:  

  • Die Zeit, in der Zürich das Zentrum der Reformation war; 
  • Die Zeit, in der bis heute Bedeutsames geschah. 
  • Die Zeit des Umbruchs, dessen Zentrum Zürich als Wohnort Zwinglis war. 

Vor 500 Jahren war Zürich der «Hotspot» für Veränderungen – konzentriert, dicht, schnell und nachhaltig. Zwingli war zur richtigen Zeit am richtigen Ort – nicht nur mit seinen theologischen Ideen, sondern auch mit seinen politischen Neuerungen. Dieses Bild von Zürich als dynamischer Platz gefällt mir sehr. Vieles von damals zählt noch heute: Zwinglis Errungenschaften und die seiner Weggefährten wirken nach, in unserer Gesellschaft, für unser Zusammenleben im Kanton Zürich und in der Politik. 

Viele Orte in Zürich zeugen von der Geschichte: gleich neben dem ehemaligen jüdischen «Schtetl», der damaligen Judengasse, sind in der Froschaugasse noch heute die Räumlichkeiten der Druckerei Froschauer zu finden. Hier druckten Froschauer und seine Männer die «Froschauer Bibel» UND In diesen Räumen fand auch das legendäre Wurstessen (9.3.1522) gegen die Zwänge der Fastenzeit statt, an dem Zwingli zwar teilnahm, aber dann doch nicht von der kredenzten Wurst ass. Dabei, ohne dabei zu sein: Diplomat oder Politiker? 

Als Politiker und überzeugter Christ möchte ich zwei Errungenschaften Zwinglis hervorheben: 

  1. Das schon vor 500 Jahren begründete Verhältnis von Kirche und Staat.
  2. Die Rolle der anerkannten Kirchen und Glaubensgemeinschaften, die mit ihren vielfältigen Leistungen soziale und emotionale Bedürfnisse der Gesellschaft erfüllen. 

Die starke Verbindung von Kirche und Staat geht auf Zwingli als Mann mit grossem politischem Instinkt zurück. Die Erkenntnis, dass es gemeinsam besser geht, Hand in Hand, müssen schon damals die Zürcher Ratsherren und Zwingli gehabt haben. Für sie stand die Gemeinschaft oder das Kollektiv im Zentrum. Schon zu Zeiten der «Prophezey», als Bildung in den Vordergrund rückte, als in Zürich öffentlich disputiert, die Bibel interpretiert und neu übersetzt wurde, traf der Zürcher Stadtrat vernünftige Entscheide – wie heute der Regierungsrat zumindest meistens. Der damalige Rat setzte Ideen um, die rund um die Kirchenvertreter entstanden waren. War Zwingli Berater, vielleicht Lobbyist oder einfach guter Politiker? Auf jeden Fall war er ein starker Kämpfer für sein Anliegen rund um die «Reformation».  

Heute geht es nicht mehr um die einzig wahre oder richtige, neue oder alte Religion. Wir leben – zum Glück – in einer offenen, freiheitlichen Gesellschaft.

Das zeigt sich auch in den Zahlen: 

  • Rund die Hälfte der Menschen im Kanton Zürich gehören einer Religionsgemeinschaft an. (Übrigens: es gibt wahrscheinlich deutlich mehr Kirchenmitglieder als Parteimitglieder!)
  • Über die Kirchenmitgliedschaft kann jeder und jede ganz individuell entscheiden, der Austritt aus der jeweiligen kirchlichen Körperschaft ist jederzeit möglich. 

Persönlich möchte ich nicht verzichten auf die Orientierung, die Kirchen und Glaubensgemeinschaften uns individuell und unserer Gesellschaft bieten. Zum Glück greifen wir auch heute auf Ideen von Zwingli zurück, der ja auch ein Gesellschaftsreformer war. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Grundwerte wie Toleranz, Respekt und Fürsorge gelten. Für mich sind dies zutiefst christlich-jüdische Werte, die für alle Menschen im Kanton Zürich prägend sind – egal ob er oder sie Mitglied in einer der anerkannten Kirchen ist oder nicht. 

In Tagen wie diesen, in der Krieg und Armut in vielen Gegenden der Welt herrschen, und auch im Kanton Zürich Fragen zur Sicherheit, zum Sozialwesen oder rund um die Migration diskutiert werden, kommen wieder Zweifel auf: An einem schützenden Gott – und: Zweifel am Wert der Kirchen. 

Um die Zweifel an einem schützenden Gott zu zerstreuen, sind viele hier im Publikum weitaus besser geeignet als ich. Als Sozialminister des Kantons Zürich anerkenne und schätze ich den Wert der Kirchen, die vielfältige Leistungen in unserer Gesellschaft erbringen. Der Staat kann diese Aufgaben nicht allein übernehmen, er braucht die Unterstützung der Kirchen. Ich bin dankbar, dass die Kirchen vorhandene Lücken schliessen und sich für die Schwachen in der Gesellschaft einsetzen. 

Noch immer habe ich Zürichs leere Strassen vor Augen, als ich während der Pandemie mit Christoph Sigrist rund um das Grossmünster unterwegs war. Gottverlassen war es. Ähnlich muss es zu Zeiten der Pest (1519) gewesen sein, an der auch Zwingli erkrankte, aber vorher als Seelsorger in Zürich unterwegs war. Zwingli hat sich immer für die Armen und Kranken eingesetzt – davon zeugt noch heute die Almosen-Truhe in der Sakristei im Grossmünster. 

Es ist Ironie der Geschichte, dass wir eine neue Form des «Zehnten», den Zwingli in seiner damaligen Form ablehnte, heute etabliert haben: die allgemeine Steuerpflicht, nicht nur die Kirchensteuern oder die Staatsbeiträge, die die Kirchen für ihre gesamtgesellschaftlichen Leistungen erhalten.

Diese Staatbeiträge – auch die der juristischen Personen – gehen aus gutem Grund an die Kirche: 

  • Die Kirchen leisten viel für die Gesellschaft: eine Studie der Universität Zürich belegt dies.
  • Die Kirche macht sich stark und setzt sich ein: ganz besonders auch für jene Menschen, die es im Leben nicht leicht haben.
  • Die Kirchen sorgen für Stabilität und Solidarität. 

Die anerkannten Religionsgemeinschaften zeigen jedes Jahr aufs Neue: Sie sind jeden Franken wert, den sie erhalten. 

Die Privilegien, die Religionsgemeinschaften geniessen, haben ihre Grundlage in der Zürcher Kantonsverfassung – Auftrag an uns in der Politik:  Bereits in der Präambel steht der Bezug zu den religiösen Grundlagen des Gemeinwesens: das Volk des Kantons Zürich handelt in «Verantwortung gegenüber der Schöpfung». Seit fast 20 Jahren (2006) sind nicht nur drei christliche, sondern auch zwei jüdische Organisationen öffentlich anerkannt. Als Verfassungsrat hatte ich diesen Antrag seinerzeit mit eingebracht, und ich bin heute noch froh darüber!

Immer wieder treffe ich auf starke, initiative und oft auch kirchlich spirituelle Persönlichkeiten. Und auf breit getragene Institutionen, die sich in ganz schwierigen Momenten für Menschen am Rande der Gesellschaft einsetzen. Das ist wertvoll – damals wie heute! 

Seit meiner Schulzeit in der Kantonsschule Freudenberg durfte ich jüdische Mitschüler zu meinen Freunden zählen. Ihre Feste und ihre Verbundenheit im Glauben haben mich geprägt und lassen mich die Anliegen der jüdischen Gemeinschaften vertreten. Ich stehe in engem Austausch mit Mitgliedern verschiedener Glaubensgemeinschaften. Einen Theologen und Pfarrer nenne ich einen guten Freund. Bei jedem gemeinsamen Mittagessen hecken wir neue Ideen aus. Auch mit protestantisch fernen Kirchenvertretern spreche ich, zum Beispiel an der Bischofsweihe von Joseph Bonnemain in Chur. Ob ich mich beeinflussen lasse? Ja, selbstverständlich, deswegen treffe ich diese Menschen ja.

Ich bin überzeugt: 

  • Es braucht das Zusammenspiel von Staat und Zivilgesellschaft, von politischen Behörden und engagierten Einzelpersonen, von privaten Organisationen und der Kirche.  
  • Es braucht den Dialog zwischen den Menschen, der nicht Hass schürt, sondern Verzeihen ermöglicht.
  • Denn: Nur so entsteht Vertrauen, nur so entsteht eine stabile und sozial starke Gesellschaft. 

Und darum spreche ich mich immer wieder ganz klar aus für das gemeinsame Wirken von Kirche und Staat im Sinne Zwinglis aus: 

  • mit religiöser Nüchternheit 
  • mit hoher Ergebnisorientiertheit
  • und zugunsten unserer sozialen, christlich-jüdischen Gesellschaft. 

Dies setzen wir alle mit den Feierlichkeiten rund um das 500jährige Jubiläum der «Hohen Schule», der «Prophezey» fort, zu der sich Zwingli mit seinen Männern erstmals vor 500 Jahren im Chorraum des Grossmünsters versammelte. 

Für Ihren Einsatz, das Erbe Zwinglis im Kanton Zürich am Leben zu erhalten und an die «Prophezey» und ihre Ideen zu erinnern, möchte ich Ihnen danken. 

Ich wünsche uns allen einen schönen Abend!